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Slim-Recruiting: Recruiting ohne Anschreiben?

Geoffroy de Lestrange

Southern Europe Marketing Manager, Cornerstone

Keine Bewerbung ohne Lebenslauf und Anschreiben. Letzteres verliert allerdings zunehmend an Bedeutung, denn immer mehr Personalverantwortliche lesen das Motivationsschreiben gar nicht mehr. Einige große Unternehmen sind daher bereits dazu übergegangen, komplett auf die erste Seite zu verzichten. Läuft die Bewerbung der Zukunft nur noch über Lebenslauf und Schulnoten, bevor man zum Einstellungsgespräch eingeladen wird?

Zumindest der Trend geht in die Richtung, denn die Zeiten zwischen Anzeige und Einstellung werden immer kürzer: Ein Lebenslauf ist schnell verfasst und verschickt, denn die chronologisch angeordneten Lebensabschnitte bedürfen in der Regel keiner ausführlichen Erklärung. Möchte der Arbeitgeber dennoch zusätzlich noch ein Motivationsschreiben in den Bewerbungsunterlagen sehen, wirkt sich das in einigen Fällen entschleunigend oder gar negativ auf den weiteren Verlauf des Bewerbungsprozesses aus. Den Kandidaten fehlt nämlich oft die Motivation oder schlichtweg die Erfahrung, ein Anschreiben zu verfassen. Davon besonders betroffen sind Erstbewerber wie Schüler und Studenten, die sich zwar über ihre Präferenzen im Klaren sind, aber noch keinen Zusammenhang zu dem unbekanntem Berufsfeld schaffen können. In ihrer Not bleibt dann nur noch die Flucht in die Suchmaschinen des Internets, aus denen dann häufig zunächst Standardformulierungen kopiert und anschließend ein neuer, passender Text entworfen wird. Dieser Ablauf ist nicht nur für die Bewerber mit viel Frust und Zeitaufwand verbunden, auch die Personaler haben sich an den Floskeln satt gelesen und steuern dieser Entwicklung mit neuen Ideen aktiv entgegen – schließlich beklagen viele Arbeitgeber inzwischen, dass sich die Anschreiben mehr oder weniger ähneln, weil alle dieselben Ratgeber lesen.

So hat beispielsweise die Deutsche Bahn seit letztem Jahr angefangen, auf ein Anschreiben bei Bewerbungen von Berufseinsteigern wie etwa angehende Azubis zu verzichten. Für die Bahn ist diese Entscheidung bereits heute eine kleine Erfolgsstory, denn neben dem positiven Effekt auf die Bewerberanzahl, freuen sich die Recruiter auch über die Gelegenheit, mehr Bewerber persönlich kennenzulernen. So sind seit dem Start des sogenannten Slim Recruiting zehn Prozent mehr Bewerbungen eingegangen. Hat der Begleitbrief damit nun ausgedient? In einer Sache sind sich die Recruiter der Deutschen Bahn zumindest einig: Das Motivationsschreiben in der Art und Weise, wie wir es kennen, bildet für Sie kein ausschlaggebendes Kriterium mehr und sagt generell nichts über die Fähigkeiten des Bewerbers aus .Wer dem künftigen Arbeitgeber schmeichelt, beweist damit nicht, dass er später ein überragender Lokführer, Gleisarbeiter oder sonstiger Mitarbeiter wird. Für die richtige Einschätzung sind es aus Sicht so mancher Recruiter in erster Linie die Noten, Erfahrungen und allem voran persönliche Gespräche mit den Bewerbern, die zum Schluss zu einer Entscheidungsfindung führen. Aber ist das An- bzw. Motivationsschreiben damit bald komplett aus der Welt zu denken? Wir haben die Vor- und Nachteile mal gegeneinander aufgewogen.

Contra: Das Anschreiben ist nicht mehr zeitgemäß

Anstatt der üblichen Floskeln wie „Hiermit bewerbe ich mich auf die ausgeschriebene Stelle …“ sollen in Zukunft eher knackig-kurze Motivationsfragen am Beginn der Bewerbung stehen wie etwa „Warum Sie?“ oder „Warum wollen Sie diesen Job haben?“ So komme man gezielter auf das Wesentliche zu sprechen. Herkömmliche Anschreiben erfüllen diesen Zweck nicht mehr und können sogar das Gegenteil bewirken. Ein langes Anschreiben könnte dem Kandidaten künftig sogar Negativpunkte einbringen, da er sich nicht innovativ, sondern traditionell vermarktet, anstatt sich auch mit kurzen Worten darzustellen. Schließlich geht es auch darum, sich gut zu verkaufen. Oft hindern die formalen Kriterien einen Bewerber aber auch daran, im ersten Anlauf gut bei den Recruitern zu punkten. Gleichzeitig frustriere dieses Vorgehen auch die Kandidaten, gibt es doch heute schon Apps wie truffls, wo man sich per Klick auf den Screen auf eine offene Stelle bewerben kann. Sowohl Bewerber als auch Recruiter sparen Zeit.

Ein Anschreiben ist daher nicht nur für die Bewerber mühsam, sondern für viele Unternehmen auch schlicht nicht mehr aussagekräftig. Selbst wenn das Motivationsschreiben voll überzeugt, woher soll der Recruiter wissen, ob das Anschreiben vom Kandidaten stammt oder von seinem Vater getippt wurde – oder eben Google ein wenig nachgeholfen hat? Auch die meisten Bewerber – so die bisherige Einschätzung – werten einen Wegfall des Anschreibens als positiv. Besonders junge Kandidaten, die gerade frisch von der Schule kommen, empfinden es als schwierig, ein Motivationsschreiben zu verfassen. Und da Arbeitgeber wie die Deutsche Bahn massive Probleme mit der Nachwuchsförderung haben, finden sie so einen Weg junge Leute für eine Bewerbung zu begeistern und sparen ohnehin noch Zeit und Ressourcen.

Pro: Das Anschreiben verleiht der Bewerbung erst die persönliche Note

Es hat nichts mit Tradition zu schaffen, wenn man weiterhin auf ein Anschreiben auf der ersten Seite einer Bewerbung besteht. Schließlich gibt es wichtige Meta-Informationen über den Kandidaten preis, wie zum Beispiel den persönlichen Schreibstil oder Referenzen. Im Grunde funktioniert es wie eine Visitenkarte und vermittelt einen ersten Eindruck vom Bewerber. Tatsächlich kann man auch in der höflichen Formsprache einen persönlichen Schreibstil einfließen lassen und sich dem Personaler schmackhaft machen. Der Vorwurf, dass die meisten Anschreiben aus den üblichen Phrasen zusammengepuzzelt sind, kann man gerade als seinen persönlichen Vorteil ausspielen. Ziel sollte eine zielgerichtete und konkrete Ansprache der Recruiter und des Unternehmens sein. Aus dem Anschreiben sollte hervorgehen, dass der Bewerber sich individuell an diese Firma richtet und es sich nicht nur um einen vorgefertigten Blocktext handelt, der an dutzende Unternehmen verschickt wird.

Zudem verlangt es den Bewerbern ab, sich vorab mit dem potenziellen Arbeitgeber auseinanderzusetzen. Fällt das Anschreiben weg, müssen Kandidaten auch keine Recherchen mehr vornehmen. Wer nur Lebenslauf und Zeugnisse online zuschickt, braucht nicht einmal die Anschrift der Firma. Dies könnte sich am Ende rächen. Denn die Abschaffung des Anschreibens soll bewirken, dass das Recruiting flexibler wird. Doch mit einem entsprechend (schlechten und oberflächigen) Motivationsschreiben kann bereits im Vorfeld aussortiert werden. Beim Slim Recruiting müssen sich die Recruiter durch viele Bewerbungsgespräche mühen, nur um erst hier festzustellen, dass der Kandidat gar nichts über das Unternehmen weiß. Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, dass Lebenslauf und besonders Zeugnisse mit Schulnoten alleine nicht aussagekräftig genug sind, um zu entscheiden, ob jemand zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden kann oder nicht. In dem Wort Bewerbung steckt auch nicht zufällig, dass Wort „Werbung“ drin. Zieht man den Vergleich zur richtigen Werbung aus Print und TV, so würde ein Verzicht auf das Motivationsschreiben ungefähr so aussehen, dass unsere Reklame in Zukunft nicht mehr kreativ ist, sondern bloß eine statische Auflistung von Produktdetails.

Recruiting muss auf jeden Fall agiler werden – aber um welchen Preis?

Neben der deutschen Bahn verzichten mittlerweile auch der Konsumgüterhersteller Henkel, die Drogeriekette Rossmann und der Versandprofi Otto auf das Anschreiben im Bewerbungsprozess. Bei Otto stehen die Bewerber zunächst vor der Entscheidung, ein Anschreiben einzureichen oder vorab eine Motivationsfrage zu beantworten. Die zweite Option spart den Personalern bei der Sichtung aufgrund der Massen an Bewerbungen viel Zeit. Auf die Beschleunigung des Bewerbungsprozesses ist man auch bei Henkel aus. Passende Bewerber werden möglichst schnell gefiltert und zu einem Telefoninterview eingeladen. In diesen Vorabtelefonaten werden dann die Fragen gestellt, die in der Bewerbung nicht beantwortet wurden. Höchstwahrscheinlich finden sich an dieser Stelle Fragestellungen wieder wie „Warum haben Sie sich gerade bei uns beworben?“ oder „Wo sehen Sie Ihre Stärken und Schwächen?“. Die Antworten auf diese Frage fanden sich bisher auch in einem überzeugenden Anschreiben wieder. An dieser Stelle wird jedoch klar, dass die gedankliche Arbeit, die die Bewerber bei der Ausarbeitung eines Anschreibens leisten müssen, sich mit der Abschaffung nicht in Luft auflöst, sondern einfach auf einen späteren Zeitpunkt verlagern wird. Unabhängig davon, ob ein Unternehmen das Anschreiben anfordert, müssen sich Bewerber mit dem Unternehmen aktiv auseinandersetzen.

Wenn international aufgestellte Konzerne also bekannt geben, dass sie ihre Bewerbungsabläufe schlanker gestalten möchten, bedeutet das in der Umsetzung nichts anderes, als dass Absagen deutlich schneller erfolgen sollen als bisher. Denn trotz Fachkräftemangel leiden gerade Großkonzerne eher an einem Überhang an Bewerbungen als an einer mangelnden Nachfrage. Dabei gilt es, die hohe Anzahl an unqualifizierten Bewerbern möglichst schnell zu identifizieren. Nur so können sich Recruiter effektiv Zeit für potentielle Kandidaten freischaufeln und in kurzer Zeit zu einem erfolgreichen Abschluss kommen. Neben dem Faktor Zeit herrscht für bestimmte Berufsgruppen wie den Auszubildenden mittlerweile regelrecht ein Wettbewerb auf dem Markt.


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